zum vierten mal in berlin
Fernweh

Zum vierten Mal in Berlin

Stationen eines Lebens: Johanna ist 1918 in der Schweiz geboren. Ihr Vater, der beim Auswär­tigen Amt beschäftigt war, wurde unter anderem nach Indonesien versetzt. Dort verbrachte Johanna ihre ersten drei Lebensjahre.

In vier Moment­auf­nahmen schildert Johanna hier die Eindrücke ihrer Berliner Jahre 1924, 1938, 1976, 2001.

1924:
Die Kaiser-Wilhelm-Gedächt­nis­kirche war noch keine Ruine, als ich dort mit sechs Jahren, kurz vor dem Eintritt in eine private Volks­schule, getauft wurde. Wir wohnten damals in der Bleib­treu­straße. Ich musste nur wenige Meter Richtung Kurfürs­tendamm gehen und dann nach rechts abbiegen, um zur Schule in der Mommsen­straße zu gelangen. Aus unserem Gangfenster konnte man den Bahnhof Savigny-Platz sehen; dort hielten viele schwarze Dampfzüge und die rot-gelben S‑Bahnen. Oft brannte das elektrische Licht nicht, weil gestreikt wurde; dann zündete meine Oma Petro­le­um­lampen an. Sonntags fuhren wir manchmal mit der Straßenbahn zum Bahnhof Beussel­straße. Von dort mussten wir noch fünfzehn Minuten den Saatwinkler Damm entlang gehen und kamen in ein Garten­lokal. Es lag direkt über dem Hohen­zol­lern­kanal und gehörte meiner Tante Hedwig. Sie gab mir immer feine Kuchen mit Beeren und Früchten, die in ihrem Garten wuchsen. Tante Berta betrieb ein kleines Keller-Restaurant in der Albrecht­straße, gar nicht weit vom Deutschen Theater, wo mein Onkel das Horn spielte. Diese Tante stammte aus Königsberg und machte mir immer schöne Königs­berger Klopse.

1938:
Als meine Bewerbung beim Max-Gehlen-Verlag in der Landhaus­straße in Wilmersdorf positiv beant­wortet wurde, begann ich sofort, ein möbliertes Zimmer in der Nähe des Verlags zu suchen. Man brauchte seinerzeit keine Wohnungs­an­zeigen in der Zeitung zu lesen, es hingen genügend Schilder an den Eingangs­türen der Pensionen, die auf freie Zimmer aufmerksam machten. Es dauerte nicht lange und ich fand in der Baden­schen Straße ein kleines Zimmer; bald musste ich dort aber wegen Wanzen­be­falls ausziehen. In der Nachod­straße bekam ich sofort ein schönes Zimmer mit Balkon; die Leiterin des Heims war Englän­derin und man konnte mit ihr sehr angeregt über die Nazidik­tatur schimpfen, ohne dass jemand etwas davon hörte oder verstand. Im Verlag führte ich die Anzei­gen­ab­teilung. Oft ging ich mit der Zwerg­dogge des Chefs hinüber auf den Nikols­burger Platz, wo die Gänse­liesel-Plastik heute noch steht. Dort saß niemand auf den gelben Bänken mit der Aufschrift „Nur für Juden“. Als der Verlag geschlossen wurde, weil er „nicht-kriegs­wichtig“ war, bewarb ich mich beim Oberkom­mando des Heeres als Schreib­kraft. Ich wurde sofort einge­stellt und musste nun einen längeren Weg gehen, um zu meiner Arbeits­stelle am Lützow-Ufer zu gelangen. Er führte mich über das Südufer des Landwehr­kanals, vorbei an der Stelle, wo am 15. Januar 1919 die Leichen von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ins Wasser geworfen wurden. In der Nacht auf den 20. Jahrestag des Mordes hatte hier jemand zum Gedenken an die Opfer einen Blumen­strauß nieder­gelegt. Beim Oberkom­mando hatte ich verschie­denste Listen über Lebens­mit­tel­lie­fe­rungen an die Truppe zu erstellen; die Arbeit war nicht anstrengend und man konnte dort auch Waren bekommen, die norma­ler­weise nicht mehr im Handel waren: Die Ratio­nie­rungen hatten schon begonnen. Die Wochen­enden verbrachte ich oft am Wannsee oder bei meiner Tante am Saatwinkler Damm, der ich beim Bedienen half. „Der Krieg steht vor der Tür!“, sagte der Kutscher, mit dem ich in der letzten August­woche 1939 durch die Beussel­straße Richtung Wilmersdorf fuhr. Er müsse demnächst seine beiden Pferde an das Heer abliefern.

Der Krieg steht vor der Tür, sagte der Kutscher, (…) Er müsse demnächst seine beiden Pferde an das Heer abliefern.

1976:
Für sechs Wochen hatte ich mich nahe der Kaiser-Wilhelm-Gedächt­nis­kirche einquar­tiert. Das einfache Hotel lag in der Marburger Straße. Dort begann ich täglich meine langen Fußmärsche, um die Orte, an denen ich mich vor dem Krieg aufge­halten hatte, wieder zu sehen. Bekannte oder Verwandte hatte ich nicht mehr in Berlin. Die ganze Verwandt­schaft meiner Stief­mutter war im Krieg umgekommen, die meines Vaters ebenfalls und ehemalige Kollegen und Freunde konnte ich nicht mehr auffinden. Erbost und verblüfft stand ich vor der Westseite des Branden­burger Tores, durch das man nun wegen der „Mauer“ nicht mehr gehen konnte. Empört war ich, weil ich nicht wusste, wie ich die Grenze passieren konnte, um die Albrecht­straße unweit des Deutschen Theaters aufzu­suchen. Ich hätte gerne gewusst, ob das Haus mit dem Keller­lokal, das Tante Berta damals betrieb, noch steht oder auch zerstört war wie das Elternhaus meines Vaters in der Luisen­straße 24, nahe dem S‑Bahn-Bogen. In Charlot­tenburg fand ich das Haus Bleib­treu­straße 8/9 nahezu unver­sehrt wieder; ebenfalls die Schule in der Mommsen­straße sowie das Anwesen in der Landhaus­straße, wo der Verlag war, bei dem ich gearbeitet hatte. Die Häuser, in denen ich die möblierten Zimmer gemietet hatte, waren nicht mehr da.

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2001:
Der 20. Juli war ein wunderbar sonniger und warmer Freitag. Um sieben Uhr morgens verließ ich das Hotel in Reini­ckendorf. Es sollte das letzte Mal gewesen sein, dass ich in Berlin ein Hotel­zimmer nehmen musste. Ich wollte pünktlich um acht Uhr meine neue Wohnung in Charlot­tenburg aufschließen. Auch die Möbel­packer kamen pünktlich. Schon um zwölf Uhr war der Einzug abgeschlossen. Endlich hatte ich die Möglichkeit, die altbe­kannten Wege, besonders durch „Mitte“, wieder zu gehen und die Erinnerung an die Jugendzeit in dieser liebens­werten Stadt aufzu­fri­schen, die seit dem Fall der Mauer „grenzenlos“ ist. Nun aber bleibt mir einzig, diese Wege in Gedanken zu gehen: Mein Alter hat meine Bewegungs­freiheit sehr stark eingeschränkt.

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